Grußwort der Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Sylvia Löhrmann

Eröffnung der Ausstellung „Mütter des Grundgesetzes“

7. Mai 2014, 17-18 Uhr

Elisabeth-Selbert-Gesamtschule Bonn

 – Es gilt das gesprochene Wort. –

 Foto Ministerin

Sehr geehrte Frau Frings,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

liebe Schülerinnen und Schüler,

 

4 Mütter und 61 Väter sind die „Eltern“ des Grundgesetzes. Das lässt stutzen. Denn eigentlich bilden, rein biologisch gesehen, je eine Frau und ein Mann ein Elternpaar.

Mit diesem Bild, das zum Nachdenken anregen sollte, möchte ich Sie, die Schülerinnen und Schüler der Elisabeth-Selbert-Gesamtschule, die Schulleiterin, das Kollegium sowie alle weiteren Gäste, die am heutigen Abend an der Ausstellungseröffnung „Mütter des Grundgesetzes“ teilnehmen, herzlich begrüßen.

Ihre Schule, die den Namen einer dieser wenigen Mütter des Grundgesetzes trägt, hat die Ausstellung ins Haus geholt, um ein Stück ihrer Identität lebendig werden zu lassen – um sie nachzuempfinden, eine großartige historische Leistung zu verstehen und ihre Bedeutung für heute zu begreifen.

Begeben wir uns daher ein paar Minuten auf eine Zeitreise in die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Krieg hat unvorstellbares Leid über Europa gebracht, Deutschland selbst wurde als Kriegsverursacher nicht verschont. Zahllose Männer waren im Krieg umgekommen oder wurden noch vermisst, so dass es 1945 in Deutschland sieben Millionen mehr Frauen als Männer gab.

Deshalb mussten sie das Land wieder aufbauen – als so genannte „Trümmerfrauen“ versuchten sie, nicht nur ihre Familien zu ernähren, sondern gleichzeitig auch die Städte von Ruinen zu befreien und ein Stück Normalität wieder auferstehen zu lassen.

Der Wille zum Neubeginn und Wiederaufbau unseres Landes wäre ohne dieses entschlossene Zupacken der Frauen, die im Krieg ebenfalls Schreckliches erlebt haben, niemals Wirklichkeit geworden.

Aber auch eine andere Grundlage wird in dieser Zeit neu gelegt – der Staat soll wieder aufgebaut werden. Und deshalb brauchte es eine neue Verfassung, denn die Fehler der Weimarer Republik sollen sich nicht wiederholen.

Deshalb wurde auf Betreiben der alliierten Westmächte durch die Landtage der elf westdeutschen Länder ein Parlamentarischer Rat eingesetzt. Unter der Vorgabe  demokratischer Inhalte und Verfahren sollten sich Vertreterinnen und Vertreter des Landes selbst eine neue Verfassung geben.

Allerdings – ich habe es eingangs erwähnt – waren unter den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates nur vier Frauen. Vier Frauen, die mehr als 50 Prozent der Bevölkerung repräsentierten. Eine Bevölkerungsmehrheit, die einen wesentlichen Anteil am Wiederaufbau hatte.

Und damit sind wir mitten im Thema des heutigen Nachmittags.

 

Liebe Schülerinnen und Schüler,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

so wird deutlich, wie lang eigentlich der Weg zur heutigen Sichtweise der Gleichberechtigung der Geschlechter war und leider manchmal immer noch ist.

Unter diesen vier Frauen im Parlamentarischen befand sich die Namensgeberin Eurer Schule, Elisabeth Selbert. Sie wollen wir uns etwas genauer anschauen.

Anders als Ihr macht sie das Abitur erst, als sie knapp 30jährig schon zwei Kinder bekommen hatte. Dies ist natürlich eine Besonderheit der damaligen männerdominierten Zeit zwischen den Weltkriegen und eine umso größere Leistung angesichts der Widerstände, die sie dafür zu überwinden hatte. Bereits vier Jahre später erlangte sie den Doktortitel und ist lange Jahre als Anwältin tätig – auch dies eine großartige Leistung.

Sowohl in ihrer akademischen Arbeit wie auch in ihrer politischen, die 1918 mit ihrem Eintritt in die SPD begann, beschäftigte sie sich ausführlich mit der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Wie schwer muss dieser Einsatz gerade auch in Zeiten des Nationalsozialismus gewesen sein, als Frauen praktisch ein Berufsverbot erhielten und Elisabeth Selbert es trotzdem schaffte, als Anwältin zugelassen zu werden. Was auch bitter nötig gewesen ist, da ihr Mann aufgrund seines politischen Wirkens bis 1945 keiner Arbeit nachgehen durfte.

Liebe Schülerinnen und Schüler,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

„Frauen und Männer sind gleichberechtigt“  – so lautet Artikel 3 des Grundgesetzes, den wir im Wesentlichen dem Einsatz von Elisabeth Selbert verdanken und der den Höhepunkt ihres lebenslangen Engagements für die Gleichberechtigung der Geschlechter darstellt.

Ohne Elisabeth Selbert, ohne die vier Frauen im Parlamentarischen Rat, wäre es nicht zu dieser Formulierung gekommen. Der Parlamentarische Rat war eine Männergesellschaft, die zunächst diesen Satz in Artikel 3 ablehnte – obwohl auch die Weimarer Verfassung die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten für Frauen und Männer“ vorsah.

Elisabeth Selbert hat, vor allem  zusammen mit Frieda Nadig, die Frauen in ganz Deutschland zu Briefen, Resolutionen und Stellungnahmen motiviert, mit denen der Parlamentarische Rat dann waschkörbeweise überschüttet wurde.

Und es hat funktioniert! Die Männermehrheit konnte sich schließlich dem drängenden Votum der zahlreichen Frauen nicht mehr entziehen und der Grundsatz der Gleichberechtigung wurde in das Grundgesetz aufgenommen – auch wenn es danach noch viele Jahrzehnte dauerte, ihn mit Leben zu füllen.

Zum Glück sehen wir heute diesen Auftrag des Grundgesetzes klar vor uns – und halten ihn zum Glück in großen Teilen unserer Gesellschaft für selbstverständlich und nicht für die bloße Erfüllung einer wie auch immer gearteten Pflicht.

Wir müssen und wollen die Welt gemeinsam gestalten. Männer und Frauen haben die gleichen Rechte und die gleiche Verantwortung. Deshalb bitte ich Euch, liebe Schülerinnen und Schüler, dass Ihr Euch dafür einsetzt. Erinnert Euch an den steinigen Weg, den die Namensgeberin Eurer Schule zurücklegen musste, bis sie am Ziel war. Wie schwierig dieser Weg in der damaligen Zeit gewesen ist, mit zwei Kindern, in Zeiten einer grausamen Diktatur und eines kriegszerstörten Landes.

Wir, unsere Gesellschaft, unser Land brauchen Euren Einsatz. Mischt Euch ein in die Gestaltung unserer Zukunft – wir sind noch lange nicht am Ziel.

Ich will Euch nur einige wenige Beispiele nennen, die zeigen, dass der steinige Weg zwar geebnet ist, das Ziel aber noch nicht erreicht wurde.

Im Landtag in Düsseldorf waren 1946 von 211 Mitgliedern 24 weiblich – und danach sinkt der Frauenanteil von diesen 11 Prozent weiter. 1970 -75 lag er sogar nur bei 3,5 Prozent, nur 7 Frauen waren damals Mitglieder. Aktuell liegt der Frauenanteil bei knapp 30 Prozent – was ich immer noch zu wenig finde.

Im Bundestag gibt es eine ähnliche Entwicklung: Hier ist bis 1983 ebenfalls nur ein einstelliger Prozentbereich von Frauen festzustellen, aktuell erreicht man ebenfalls nur knapp 30 Prozent.

Es gibt aber auch Fortschritte: Seit vier Jahren wird die Landesregierung von zwei Frauen geführt, außerdem haben wir in NRW eine Landtagspräsidentin, eine Präsidentin des Landesrechnungshofes und eine Präsidentin des Landesverfassungsgerichtes.

Von anderen Bereichen, zum Beispiel der Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsräten von Wirtschaftsunternehmen, will ich an dieser Stelle besser gar nicht anfangen.

Im bürgerlichen Gesetzbuch und Gesetzen hat es noch lange Ungleichheiten gegeben, z.B. das sogenannte Zustimmungserfordernis des Ehemanns zur Berufstätigkeit der Frau.

Und immer noch können Frauen für gleiche Arbeit nicht den gleichen Lohn wie Männer erwarten.

Der 1992 durch den Zusatz: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung  bestehender Nachteile hin“ ergänzte Artikel 3 des Grundgesetzes hat zwar in vielen Bereich im Sinne Elisabeth Selberts gewirkt – aber die erwähnten Beispiele zeigen, dass unsere Gesellschaft noch nicht am Ziel ist.

Deshalb hoffe ich, dass Ihr Euch für die vollständige Gleichberechtigung einsetzt. Dass Ihr sie lebt und nicht als Selbstverständlichkeit hinnehmt – denn sie ist nicht selbstverständlich, das zeigt die Geschichte, das zeigt das Leben Elisabeth Selberts.

Meine sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Schülerinne und Schüler,

der Titel „Mütter des Grundgesetzes“ ist sicherlich liebevoll gemeint – und auch eine Auszeichnung, denn es gibt wenig Leistungen, die mit denen einer Mutter vergleichbar wären. Man sollte diesen Titel aber ergänzen. Denn es war nicht nur die Leistung von „Müttern“ und ihrer Fürsorglichkeit und Liebe, die der Gleichberechtigung in Deutschland den Weg geebnet hat, sondern auch die Leistung von politisch klugen und engagierten Managerinnen und Taktikerinnen, die dazu beigetragen hat.

Ich freue mich, genau diese große Leistung von Elisabeth Selbert im Besonderen heute mit euch und Ihnen hier feiern zu dürfen!