Elisabeth Selbert
22.9.1896 – 9.6.1986
„Es ist ein grundlegender Irrtum, bei der Gleichberechtigung von der Gleichheit auszugehen. Die Gleichberechtigung baut auf der Gleichwertigkeit auf, die die Andersartigkeit anerkennt.” (18.1.1949)
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – dieser Satz stünde heute nicht in unserer Verfassung ohne die Sozialdemokratin und Juristin Elisabeth Selbert, eine der vier “Mütter des Grundgesetzes”.
Elisabeth Rhode wächst in einer kleinbürgerlichen Familie auf. Sie ist die zweitälteste von vier Töchtern. Bis 1912 geht sie zur Realschule. Wegen ihrer guten Leistungen ist sie von der Schulgeldzahlung befreit. Wie alle Mädchen ihrer Zeit erhält sie kein Zeugnis der mittleren Reife, als sie die Schule verlässt. Sie möchte Lehrerin werden, doch der dazu notwendige Besuch des Oberlyzeums ist unbezahlbar. Nach einem Jahr Handelsschule arbeitet sie zunächst bei einer Import- und Exportfirma. Zu Beginn des ersten Weltkriegs wird sie arbeitslos. Erst zwei Jahre später findet sie eine Anstellung als Postgehilfin im Telegraphendienst.
Dort lernt sie ihren späteren Mann den Buchdrucker Adam Selbert kennen. Über ihn, der 1918 dem Kasseler Arbeiter- und Soldatenrat angehört, findet sie Zugang zur Politik. Noch im selben Jahr tritt sie in die SPD ein. Sie fordert die Frauen auf, das ihnen zugestandene aktive und passive Wahlrecht zu nutzen. Als einzige Frau wird sie Anfang der zwanziger Jahre Abgeordnete im Gemeindeparlament in Niederzwehren bei Kassel. 1921 nimmt sie als Delegierte an der ersten Reichsfrauenkonferenz der SPD in Kassel teil.
Als Ehefrau und Mutter zweier Söhne legt sie 1926 das externe Abitur ab. Mit Unterstützung ihres Mannes und ihrer Eltern beginnt sie im Alter von bereits dreißig Jahren ein Jurastudium, als eine der ersten Frauen in Deutschland.1930 promoviert sie über das Thema “Ehezerrüttung als Scheidungsgrund”. Die Abkehr vom Verschuldungsprinzip, die sie in ihrer Doktorarbeit fordert, wird in der Bundesrepublik Deutschland erst 1977 festgeschrieben. Die politische Arbeit läuft nebenher weiter. Bei den Reichstagswahlen Ende 1932 kandidiert sie für die SPD, immerhin auf einem so sicheren Platz, dass sie auf der Liste als nächste nachgerückt wäre. Ihre Zulassung als Anwältin erhält sie Ende 1934, zwei Wochen bevor Frauen der Zugang zu diesem Beruf ganz verwehrt wird. Da ihr Mann von den Nationalsozialisten amtsenthoben, zeitweise in ein KZ verschleppt und von der Gestapo überwacht wird, muss sie ihre Familie allein ernähren.
1946 wird sie in die verfassungsgebende Landesversammlung Hessens entsandt, in den Parteivorstand der SPD in Hessen berufen und in den hessischen Landtag gewählt. 1948 wird sie Mitglied des parlamentarischen Rates, der das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erarbeitet. Dort bestehen erhebliche Vorbehalte gegen die uneingeschränkte gesetzliche Gleichstellung von Mann und Frau.
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Elisabeth Selbert erfährt großen Widerstand, als sie ihren Gesetzestext vorlegt. Selbst von den drei weiblichen Abgeordneten Frieda Nadig, Helene Wessel und Helene Weber erhält sie zunächst keine Unterstützung. Um die Neuformulierung des Art.3 Abs.2 durchzusetzen, wählt sie den außerparlamentarischen Weg.
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Sie fordert alle Frauen in Deutschland auf, im Parlamentarischen Rat gegen die alte Formulierung zu protestieren. Innerhalb von nur sechs Wochen, in denen sie wie ein Wanderprediger werbend durch das Land zieht, gehen wäschekörbeweise Petitionen ein. Die Parlamentarier stimmen unter dem Druck der Frauen-öffentlichkeit schließlich dem Grundsatz der Gleichberechtigung zu. Damit werden die bis dahin noch gültigen frauenfeindlichen ehe- und familienrechtlichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches von 1896 verfassungswidrig.
1958 legt Elisabeth Selbert alle ihre politischen Ämter nieder, in ihrer Kanzlei ist sie bis zum Alter von 85 Jahren tätig. Sie ist wahrscheinlich enttäuscht, dass sie in ihrer aktiven Zeit als Politikerin nie ihrem Rang und Format entsprechend von der SPD gewürdigt oder eingesetzt wird: Sie wird weder hessische Justizministerin, noch Bundestagsabgeordnete oder Richterin beim Bundesverfassungsgericht. Über ihren Sitz im hessischen Landtag kommt sie nicht hinaus. Doch ihr Nachruhm wächst. 2013 wird von der ARD ein Film über die “Sternstunde ihres Lebens” produziert, der am 21. Mai 2014 zum ersten Mal gesendet wird. (KS)