Vortrag von Susanne Selbert zum Schulfest

Männer und Frauen sind gleichberechtigt (Art. 3 Abs.2 GG)

von Susanne Selbert

Es war der 18.01.1949, als diese Formulierung vom Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates angenommen wurde, bevor im Mai 49 das Grundgesetz insgesamt verabschiedet und verkündet wurde.

Der 18.01. war die Sternstunde einer der Mütter des Grundgesetzes, die Sternstunde – so hat sie es selbst bezeichnet – von Elisabeth Selbert.

Diese wichtige grundgesetzlich verankerte Basis aller zukünftigen Forderungen nach Gleichberechtigung für die Frauen zu schaffen, war seinerzeit alles andere als selbstverständlich.

Im Oktober des Vorjahres hatte der Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates noch vor, die Gleichberechtigung – angelehnt an die Formulierung in der Weimarer Verfassung – dergestalt in das Grundgesetz aufzunehmen, dass Männer und Frauen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten haben sollten.

Elisabeth Selbert intervenierte. Dies hätte zur Folge gehabt, dass nur eine staatsbürgerliche Gleichstellung erreicht worden wäre, nicht jedoch eine alle Rechtsgebiete umfassende Gleichberechtigung. Sie forderte eine klarere und eindeutigere Formulierung.

Am 30.11.1948 wird dann ihre Formulierung im Grundsatzausschuss eingebracht: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Völlig klar und unmissverständlich. Gleichzeitig wird auch ein Vorschlag der CDU eingebracht, der da lautet: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln“. Verschiedenes nach seiner Eigenart! Man ahnt schon die verschiedenen Eigenarten der Frauen im Verhältnis zu den Männern. Differenzen gibt es übrigens auch unter den eigenen Parteigenossen.

Man befürchtete ein Rechtschaos, wenn E.S. Vorschlag angenommen würde.

So kam es, dass die Formulierung von Elisabeth Selbert abgelehnt, die der CDU angenommen und so dem Hauptausschuss am 3.12.1948 zur weiteren Beschlussfassung vorgelegt wird. Elisabeth Selbert bringt in dieser Sitzung erneut den Antrag mit ihrer Formulierung ein. Wiederum unterliegt sie mit 9 zu 11 Stimmen.

Elisabeth Selbert erklärt zu jener Zeit: In meinen kühnsten Träumen habe ich nicht erwartet, dass dieser Antrag abgelehnt würde. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass man heute weiter gehen muss als in Weimar und dass man den Frauen die Gleichberechtigung auf allen Gebieten geben muss.

Die Frau soll nicht nur in staatsbürgerlichen Dingen gleichstehen, son-dern muss auf allen Rechtsgebieten dem Mann gleichgestellt werden. Die Frau, die während der Kriegsjahre auf den Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat einen moralischen Anspruch darauf, so wie der Mann bewertet zu werden.

Nun sucht Elisabeth Selbert Verbündete, unabhängig von Parteigrenzen. Sie scheut auch nicht davor, die Öffentlichkeit einzuschalten. Ein schmaler Grat: Man wendet sich nicht an die Öffentlichkeit, um ein Ziel zu erreichen, zumindest nicht als einzelne Abgeordnete. Differenzen klärt man im kleinen Kreis mit dem Fraktionsvorsitzenden.

Elisabeth Selbert reist landauf und landab, hält Vorträge in Hamburg, München, Frankfurt und mobilisiert überparteiliche Frauenverbände, Gewerkschafterinnen und Politikerinnen aller Parteien. Waschkörbeweise sollen die Protestbriefe in Bonn angekommen sein. Die Kampagne blieb nicht wirkungslos. Am 18.01.49 – in jener Sternstunde – nahm der Hauptausschuss ihre Formulierung an.

Übrigens war E.S. in jenem Jahr (1949) nicht nur Mitglied des Parlamentarischen Rates, sondern auch Abgeordnete des Hessischen Landtages, Mitglied des Bundes-Vorstandes ihrer Partei und Stadtverordnete in Kassel.

Zuvor, in den Jahren 1945/1946 war sie Mitglied der verfassungsgebenden Landesversammlung Hessens und wirkte maßgeblich an der Hessischen Verfassung mit.

Im Februar 1949 lautete die Frage in einem Faltblatt:

„Wer ist E.S.?“

Diese Frage war damals rein rhetorischer Natur. Jeder wusste seinerzeit, wer E.S. war.

In den Folgejahren vergaß man, dass es Mütter des Grundgesetzes überhaupt gab. Man sprach nur von den Vätern des Grundgesetzes. Aber es gab – neben den 61 Männern – auch 4 Frauen. Neben Elisabeth Selbert noch ihre Fraktionskollegin Frieda Nadig, Dr. Helene Weber von der CDU und Helene Wessel von der katholischen Zentrumspartei. Diesen Umstand, dass die Frauen in der Geschichte der Verfassungsschöpfung lange Zeit nicht mehr vorkamen, machte ein großformatiges Plakat aus dem Jahre 1984 ironisierend deutlich. Oben drüber stand Die Väter des Grundgesetzes und darunter war dieses Foto zu sehen.

Insbesondere der neuen Frauenbewegung der 70iger Jahre ist es zu verdanken, dass E.S. aus der Vergessenheit geholt wurde. Aber noch mal zurück zu Elisabeth Selbert: Wer war diese Frau und wie sah die Lage der Frauen zu ihrer Zeit aus? Begeben Sie sich mit mir auf eine kleine Zeitreise, 100 Jahre zurück in die Vergangenheit:

1911/1912

E.S. ist 15 Jahre alt. Sie stammt aus ganz einfachen Verhältnissen (Vater Justizwachtmeister ….)

Es ist die Zeit, in der Elisabeth Selbert zum ersten mal in ihrem Leben das ganze seinerzeitige Ausmaß diskriminierender Behandlung aufgrund ihres Geschlechts erfährt.

Die Eltern ermöglichen ihr nach dem Besuch der Volksschule den Besuch der Mittelschule (Amalienschule in Kassel).

Das Lehrangebot für die Mädchen orientiert sich an dem, was den Frauen seinerzeit an Fähigkeiten und Bedürfnissen zugeschrieben wurde.

Neben dem Fremdsprachenerwerb war dies Stenografie, Maschineschreiben und Nähen.

Sie ist eine hervorragende Schülerin, erhält aber im Jahre 1912 nach dem Ende ihrer Schullaufbahn nicht den Realschulabschluss.

Anders als die Jungs muss sie die Schule ohne Zeugnis verlassen. Es fehlten ihr – so würde man es wohl heute ausdrücken – die sog. Mint-Fächer.

Das war eine tiefgreifende Kränkung und das erste Mal, dass sie aufgrund ihres Geschlechts eine solch schwerwiegende Ungleichbehandlung erfuhr.

Diese frühe Kränkung weckt ihr Interesse für Frauenfragen und macht sie aufmerksam auf Louise Otto-Peters, die bereits verstorben war (1895) und Helene Lange, die beide sich ja maßgeblich für die Neuordnung des „höheren Mädchenschulwesens“ und für die Zulassung von Frauen zum Studium einsetzten.

Wir springen jetzt in das Jahr 1926. Elisabeth Selbert ist jetzt 30 Jahre alt, mittlerweile verheiratet mit Adam Selbert und hat zwei kleine Kinder im Alter von 4 und 5 Jahren. Adam Selbert ist nun Kommunalbeamter und Elisabeth Selbert hat sich auf dem 2. Bildungsweg auf das Abitur vorbereitet. Sie legt in diesem Jahr (1926) als erste Frau in Kassel das Abitur als sog. Externe ab. Im selben Jahr beginnt sie in Marburg mit dem Jura-Studium. Sie kann sich an keine zweite Frau unter den Jura-Studenten in Marburg erinnern. An den Vorlesungen über Sexualstraftaten nimmt sie nicht teil. Der ältere Professor sieht sich außerstande, diese Thematik in Gegenwart einer Frau zu behandeln. Sie nimmt Rücksicht auf seine Befindlichkeit.

Da sie in Marburg keinen Doktorvater findet, wechselt sie später nach Göttingen. Hier sind unter den 350 Studenten weitere 4 Frauen, darunter eine katholische Ordensschwester. Keine der 4 anderen Frauen beendet das Studium.

1930 promoviert Elisabeth Selbert. Ihre Dissertation trägt den Titel „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“. Sie ist ihrer Zeit weit voraus. Erst knapp 50 Jahre später – im Jahre 1977 – Elisabeth Selbert ist schon über 80 Jahre alt, wird „ihr Zerrüttungsprinzip“ bei uns im Westen in das Ehe- und Familienrecht eingeführt und das alte Verschuldensprinzip abgeschafft.

Ihre Ehe ist für diese Zeit ungewöhnlich. Sie tauschen die Rollen. Er kümmert sich überwiegend um die Kinder und unterstützt sie, da er bei ihr die besseren Chancen bezüglich des persönlichen Fortkommens sieht. Und weitere Familienmitglieder springen bei der Kinderbetreuung ein, die Großeltern und eine unverheiratete Schwester von Elisabeth. Denn auch Adam Selbert bildet sich weiter und wird stellvertretender Bürgermeister von Niederzwehren.

Im Oktober 1934 legt Elisabeth Selbert die 2. juristische Staatsprüfung in Berlin ab, vor dem Reichsjustizprüfungsamt. Der Vorsitzende des Prüfungsausschusses ist kein geringerer als Otto Palandt, der allein als Vorsitzender die Leistungen zu bewerten hatte. Alle anderen Mitglieder hatten nur beratende Funktion. Und nun muss man wissen:

Otto Palandt ist nicht nur der bekannteste Kommentator des BGB, er war auch „Baumeister“ am Unrechtsstaat und formulierte noch 1939, grundsätzlich sei es „Sache des Mannes, das Recht zu wahren“.

Er ließ E.S. trotzdem nicht durch die Prüfung fallen. Er war wohl ganz offensichtlich von ihr beeindruckt.

Im Anschluss an das 2. Staatsexamen beantragt E.S. die sofortige Zulassung zur Anwaltschaft, da mittlerweile bekannt wird, dass die Nationalsozialisten den Frauen keinen Zugang mehr zu den Berufen in der Justiz gewähren wollen. Sie hat Glück: Der nationalsozialistische Oberlandesgerichtspräsident ist auf Dienstreise. Seine beiden Stellvertreter, ältere Richter des Oberlandesgerichts, die Elisabeth Selbert kannten, händigen ihr die Zulassung noch am 15. Dezember 1934 aus.

Dies war ein sehr mutiger Akt, da sich Gauleiter, die Rechtsanwaltskammer und der NS-Juristenbund dagegen ausgesprochen hatten. Jetzt konnte ihre Zulassung nur noch im Wege eines Ehrengerichtsverfahrens aberkannt werden. Ab Januar 1935 werden nur noch Anträge männlicher Bewerber auf Zulassung genehmigt.

Nebenbei bemerkt:

Frauen konnten ohnehin erst seit Mitte 1922 den Beruf als Richterin oder Rechtsanwältin ausüben. Sie hatten zwar seit 1919 schon die Möglichkeit, Rechtswissenschaften zu studieren und sogar zu promovieren, das notwendige Referendariat mit dem anschließenden 2. Staatsexamen blieb ihnen jedoch verwehrt. Konservative Juristen hatten stets argumentiert, die Zulassung von Frauen zum Richteramt oder zur Rechtsanwaltschaft führe zu einer Schädigung der Rechtspflege. Durch den Einfluss „gewisser Vorkommnisse“ – gemeint waren Menstruation, Schwangerschaft und Klimakterium – sei die „berufsrichterliche Objektivität“ nicht gewährleistet.

Elisabeth Selbert ernährt ab Ende 1934 die Familie bis zum Ende der Naziherrschaft alleine. Aufgrund seiner Amts- und Mandatsträgerschaft war ihr Mann zuvor von den Nationalsozialisten als 40-Jähriger vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden. Im Juni 1933 wird er im Konzentrationslager Breitenau bei Kassel interniert, kommt jedoch wieder frei und steht die nächsten 12 Jahre unter Aufsicht der Gestapo.

In den Zeiten der Naziherrschaft versucht E.S., zeitweise bis zu 4 Anwaltskanzleien von Kollegen in Kassel aufrecht zu erhalten (Georg August Zinn sowie jüdische Kollegen).

Kommen wir aber zurück ins Jahr 1949.

Nun müsste man meinen, mit Implementierung der Gleichberechtigung in Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes sei zumindest von gesetzeswegen eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen nur noch eine Frage der Zeit und alle Gesetze, die dem Gleichberechtigungsgebot nicht entsprachen, würden zügig angepasst, spätestens bis zum Jahre 1953, dem Ende der Übergangsfrist, die der Parlamentarische Rat eingeräumt hatte. Aber weit gefehlt. Dies war nicht der Fall. Jeder Fortschritt in der Frauenfrage traf auf hinhaltenden Widerstand.

Auch nach dem 31.03.1953

  • hatte der Mann das Letztentscheidungsrecht in allen Eheangelegenheiten.
  • Er allein verfügte über das Vermögen, auch über das der Frau, einschließlich ihrer erzielten Arbeitseinkünfte.
  • Er konnte das Arbeitsverhältnis der Frau kündigen, auch gegen ihren erklärten Willen.
  • Beamtinnen, dies betraf insbesondere Lehrerinnen, mussten ggf. ihren Beruf aufgeben, wenn sie heirateten. Dies verstand man seinerzeit unter Schutz von Ehe und Familie. Diese gesetzliche Regelung ist auch als sogenanntes „Lehrerinnenzölibat“ bekannt.

 

Diese Vorschriften wurden erst mit dem Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau außer kraft gesetzt, das zum 01.01.1958 wirksam wurde – also erst 5 Jahre nach Ablauf der Übergangsfrist und fast 10 Jahre nach der Aufnahme der Gleichberechtigung in der Verfassung.

Aber auch nach dem Jahre 1958 gab es weiterhin

  • eine gesetzlich vorgeschriebene Aufgabenteilung, nämlich die sog. Hausfrauenehe,
  • es gab den sog. väterlichen Stichentscheid, d.h. der Vater konnte letztendlich über Wohl und Wehe des Kindes alleine entscheiden,
  • der Vater war nach wie vor der alleinige gesetzliche Vertreter des Kindes,
  • und alleinerziehende Frauen bekamen von amtswegen einen sogenannten „Amtsvormund“ für ihr Kind.

 

Diese Regelungen wurden erst 28 Jahre nach Einführung des Art. 3 Abs. 2 GG abgeschafft, nämlich mit dem 2. Eherechtsreformgesetz im Jahre 1977.

Die Gleichberechtigung im Namensrecht wurde erst Mitte der 90iger Jahre realisiert und erst seit 1997 ist die Vergewaltigung in der Ehe eine Straftat.

Elisabeth Selbert gab den Frauen noch im hohen Alter mit auf den Weg, „sich stärker politisch zu organisieren und zu engagieren, um die Gleichberechtigung in steigendem und in erforderlichem Maße durchzusetzen. Wir können dies nicht von den Männern erwarten – das ist Frauensache“.

Sie arbeitete übrigens noch bis zu ihrem 85. Lebensjahr bei vollkommener geistiger Frische als Rechtsanwältin und Notarin in ihrer eigenen Kanzlei in Kassel.

1986, als Elisabeth Selbert mit knapp 90 Jahren starb, war ich 26 Jahre alt. Wir hatten sehr engen Kontakt, sowohl während meiner Kindheit als auch in der Zeit als ich eine junge Frau war und Jura studiert habe.

Elisabeth Selbert war mit Sicherheit keine Großmutter, wie man sich als Kind vielleicht eine Großmutter vorstellt oder sie sich vielleicht auch gerne wünscht. Sie hat mir nicht das Häkeln und das Stricken beigebracht, ich habe niemals von ihr gelernt, wie man einen gedeckten Apfelkuchen backt und sie hat mir schon gar nicht in den Abendstunden die Grimm’schen Märchen erzählt.

Aber: Wenn man erwachsen geworden ist, stellt man fest, wie viel Bedeutsames sie uns Enkeln mitgegeben hat und dazu gehört insbesondere Demokratieverständnis, Engagement für unsere Gesellschaft und auch Mut.

E.S. hat durch ihr Engagement, durch ihr Demokratieverständnis, aber auch durch ihren Mut und durch ihre gewisse Hartnäckigkeit, mit dem Art. 3 Abs. 2 GG den entscheidenden Grundstein gelegt, der es mir und abertausenden von Frauen in der Folgezeit ermöglicht hat, mit völliger Selbstverständlichkeit eine Ausbildung zu absolvieren oder zu studieren.